Endstation Europacity: Zur Krise der Berliner Stadtentwicklung
Mit der Europacity ist in Berlin ein weiteres Beispiel für unsere Unfähigkeit entstanden, lebendige Stadtquartiere zu entwickeln. In einem Gastbeitrag für den Tagesspiegel analysiert Stefan Forster die Probleme des heutigen Städtebaus.
Wie ist es um das Bauen unserer Zeit bestellt? Dem enormen publizistischen Interesse an der Zukunft der Stadt steht eine vernichtende Kritik am gegenwärtigen Bauen gegenüber. „Stümper des Städtebaus“, „Filteranlagen für Menschen“, „Die verbaute Zukunft“ – so lauten die einschlägigen Titel in den deutschen Feuilletons. Ein Blick nach Frankfurt gibt ihnen Recht: Mit dem Europaviertel ist hier inmitten einer europäischen Großstadt ein Vorzeige-Unort entstanden, ein Lehrbeispiel für das Scheitern von Stadtentwicklung.
Der grobkörnige Städtebau, die antiurbane Nutzung, die fehlende Vernetzung mit den angrenzenden Bestandsvierteln und die einfallslose Architektur haben der Europa-Allee den Beinamen „Stalinallee“ eingebracht – ein Spottname, der mit Stalin sicher mehr gemein hat als mit der eigentlichen Stalinallee, der heutigen Karl-Marx-Allee in Berlin.
Tatsächlich besitzt die Karl-Marx-Allee eher Vorbildcharakter für einen gelungenen Städtebau: Anders als in Frankfurt haben die beiden Seiten der Allee einen Bezug zueinander, die Architektursprache ist bei aller Monumentalität zugleich differenziert und die Gebäude verfügen über einen oberen Abschluss – ein Detail, das für das Raumgefühl gleichwohl von großer Bedeutung ist. Die gesamte Straße folgt einer stringenten städtebaulichen Dramaturgie mit dem Strausberger Platz als Höhepunkt.
Aus dem Quartier Heidestraße sind homogene Blocks geworden
Gerade in Berlin, wo wir eine reiche städtebauliche Tradition vorfinden und Quartiere, die als Inbegriff für das gelingende Zusammenleben ganz unterschiedlicher Menschen gelten, wird nun mit der Europacity ein Neubauviertel realisiert, dessen pragmatischer Funktionalismus selbst das Frankfurter Europaviertel noch übertrifft. Trotz guter Absichten und des Bekenntnisses, an die Qualitäten gründerzeitlicher Quartiere anknüpfen zu wollen, ist in der Europacity nichts entstanden, was einer lebendigen Stadt auch nur nahe kommt.
Was einst vielversprechend begann – eine aus den Bestandsvierteln abgeleitete parzellierte Blockstruktur, ergänzt um Townhouses, eine Mischnutzung mit hohem Wohnanteil und einem kleinen Hafen als Zentrum – ging bei der Übersetzung in einen „Masterplan“ scheinbar verloren. Der Eingang zum Viertel, das sich direkt nördlich an den Hauptbahnhof anschließt, wird nun von einer Gruppe großformatiger Bürokomplexe gebildet, die wie eine Miniaturversion der Pariser Bürostadt „La Défense“ anmutet. Über diesen Eingang gelangt der Besucher schließlich in das Quartier Heidestraße, das unter dem Motto „Mix it like Berlin“ vermarktet wird und dezidiert das Ziel einer gemischten Nutzung mit Wohnungen, Büros, Hotels sowie gastronomischen Angeboten und Läden verfolgt.
Aus der Parzellenidee, bei der verschiedene Architekten ursprünglich einzelne Häuser im Block entwerfen sollten, sind nun homogene Blocks geworden, für die jeweils ein einziges Architekturbüro verantwortlich zeichnet. Nun bietet die Berliner Baugeschichte auch für den Großblock viele gelungene Beispiele, man denke etwa an Riehmers Hofgarten in Kreuzberg. Problematisch scheint also eher die Ausformulierung dieses Blockgedankens.
Die Europacity scheitert an ihren eigenen Ansprüchen
Letztlich besteht das Quartier Heidestraße nun aus einem städtebaulichen Hybridmodell aufeinandergestoßener Zeilen mit offenen Ecken, die für den Wohnungsbau des früheren Ostblocks und den westdeutschen Siedlungsbau der Sechzigerjahre typisch waren, sowie einer prinzipiell städtischen Blockrandbebauung. Abwechslung und Mannigfaltigkeit entstehen im parzellierten Block jedoch vornehmlich durch die Vielzahl einzelner Häuser, die einen städtischen Verbund bilden.
Wird diese Qualität der Parzellenstruktur zugunsten eines großen monolithischen Blocks aufgehoben, bedarf der einzelne Baukörper im Gegenzug einer kraftvollen, plastischen Gliederung. Beispiele hierfür findet man etwa in der Tradition der Wiener Wohnhöfe und Gemeindebauten, allen voran dem Karl-Marx-Hof. Aus architektonischer und ästhetischer Sicht ist die Kombination des Großblocks mit glatten, durchrasterten und homogenen Fassaden hingegen fatal.
Abgesehen davon, dass ein solcher Block, der natürlich auch einer kommunalen Trägerschaft bedarf, in Berlin nicht intendiert war, scheitert die Europacity also primär an ihren eigenen Ansprüchen – im Ergebnis nimmt sich die städtebauliche Realität heute trostlos aus und lässt jegliches Verständnis von Stadt vermissen. Ein Egotrip der Architekten, von denen jeder seinen eigenen Block bekommt. Stupide und monoton folgt eine Rasterfassade auf die andere, als wollten sie Niklas Maak recht geben, der diese Art der Planung treffend als „begehbares Anlagedepot“ charakterisiert hat.
Die mittlerweile von vielen Seiten geäußerte Kritik an der Europacity erhält ihre Brisanz allerdings auch dadurch, dass sie eben nicht für sich selbst steht, sondern typisch ist für den städtebaulichen Wildwuchs um den Berliner Hauptbahnhof, der sich auch in anderen Teilen der Stadt fortsetzt. Was südlich des Bahnhofs begonnen wurde, findet nördlich davon lediglich eine Fortsetzung. Schlimmer noch: Die Europacity in Berlin unterscheidet sich prinzipiell nicht von den Europavierteln in Frankfurt und Stuttgart oder der Messestadt Riem in München. Insofern ist sie ein unvermeidlicher Ausdruck der „Verwestdeutschung“ Berlins, das seine eigene Bautradition negiert und die städtebaulichen Fehler anderer Städte offenbar um jeden Preis wiederholen möchte.
Vor dem Hintergrund der enormen Beliebtheit von Bestandsvierteln wie Prenzlauer Berg, Kreuzberg oder der historischen Mitte erstaunt der Stadtdiskurs in Berlin. Selbst die Politik scheint sich nicht mehr für elementare Fragen der Planung neuer Stadtteile und Quartiere zu interessieren. Die Diskussion konzentriert sich stattdessen auf mikropolitische Themen wie „Urban Gardening“ und die Aneignung öffentlicher Räume – oder gleich für die subkulturelle Wiederentdeckung des Plattenbaus.
Gerade die neuerliche Verklärung der Platte schmerzt mich als Architekt, der sich im Zusammenhang mit dem Stadtumbau Ost intensiv mit den Möglichkeiten des Plattenbau-Umbaus beschäftigt hat. Mit unseren Projekten in Leinefelde und Halle konnten wir aufzeigen, wie Plattenbausiedlungen zu lebenswerten Quartieren umgebaut werden können. Für diese Umbaumaßnahmen wurden wir mit zahlreichen Städtebaupreisen ausgezeichnet. Eine Bedingung dafür war jedoch die schonungslose Analyse des Bestands und die Anerkennung der sozialen und funktionalen Defizite des Plattenbaus.
Wir brauchen starke öffentliche Wohnungsbaugesellschaften
Was also tun? In jüngster Zeit hat sich etwa der Werkbund mit dem Vorschlag einer „Werkbundstadt“ in die Diskussion eingebracht. Auf 30.000 Quadratmetern soll ein Wohnviertel für 2.500 Menschen am Spreebord in Charlottenburg neu entstehen. Dafür verantwortlich zeichnet eine Gruppe von 33 renommierten Architekten, die kunsthandwerklich wertvolle Einzelstücke zu einem Ensemble verbinden möchten.
Angesichts der Perspektive auf einen feinst ziselierten Manufactum-Stadtteil im oberen Segment warf auch die FAZ die Frage auf, ob es sich dabei um mehr als einen „utopischen Architekturzirkus“ handele. Was zwischen all diesen Vorschlägen unter die Räder kommt, ist eine selbstbewusste Idee von Berlin als Großstadt. Die Antwort auf die sozialen Fragen unserer Zeit, die sich mehr und mehr übersetzt in den Zugang zu Wohnraum für alle Schichten und einem qualitätsvoll gestalteten öffentlichen Raum, kann aber weder im seelenlosen Städtebau der Investoren noch in der kunsthandwerklichen Beschwörung vergangener Zeiten liegen.
Auch die subkulturelle Neucodierung der Platte oder die Askese der Miniaturhäuser, die man früher schlicht Blockhütte genannt hätte, bieten hierfür keine Lösung. Was wir stattdessen brauchen, ist eine Stadtpolitik, die umfassende Verantwortung für die Stadtentwicklung übernimmt, sowie starke öffentliche Wohnungsbaugesellschaften in Verbindung mit einer kritischen Öffentlichkeit, die sich von der Scholle emanzipiert und anfängt, wieder politisch zu denken.
Erschienen in Der Tagesspiegel, 14. April 2018