10 Thesen für nachhaltiges Bauen
Das Bauen verursacht knapp die Hälfte aller CO2-Emissionen im Lebenszyklus eines Gebäudes. Nachhaltiges Bauen erfordert daher mehr als klimaneutrale Baustoffe – eine Rückbesinnung auf die gesellschaftliche Funktion der Architektur.
1. Nachhaltiges Bauen ist sofort klimafreundlich
Das Bauen verursacht noch immer knapp die Hälfte aller CO2-Emissionen im durchschnittlich fünfzigjährigen Lebenszyklus eines Gebäudes – und das in den zwei Jahren seiner Errichtung. Die Fokussierung auf energetische Optimierung hat in den letzten Jahren zu immer aufwendigeren Konstruktionen geführt, die aber – wenn überhaupt – erst nach Jahrzehnten des Betriebs positive Effekte erzielen: Zeit, die wir schlichtweg nicht mehr haben. Angesichts begrenzter CO2-Budgets müssen wir unverzüglich handeln und das Bauen schrittweise transformieren. Digitale Planungstools helfen uns, die CO2-Treiber schon im Planungsprozess zu identifizieren, die Konstruktionen zu optimieren und die verwendeten Baustoffe zu überdenken. Darüber hinaus müssen klimaschädliche Baustoffe wie Beton schrittweise durch regenerative wie Holz oder Strohplatten ersetzt werden.
2. Nachhaltiges Bauen ist im Betrieb klimaneutral
Architektur kann schon heute einen entscheidenden Beitrag zum klimaneutralen Betrieb leisten, erfordert jedoch die konsequente Umstellung der Wärme- und Stromerzeugung. Bislang als Übergangstechnologien gehandelte Heizsysteme haben sich hierfür als untauglich erwiesen: Gasheizungen sind alles andere als klimaneutral, Pelletheizungen angesichts begrenzter Nutzwälder kaum skalierbar. Wir sehen die Lösung in zwei Technologien: der Wärmepumpe als lokalem Heizsystem für das einzelne Haus sowie zentrale Fernwärmesysteme zur Versorgung ganzer Stadtquartiere. Einmal installiert, können diese Systeme mit voranschreitender Energiewende immer klimafreundlicher werden. Darüber hinaus müssen wir Strom aus erneuerbaren Energien erzeugen, was – wo immer möglich – durch die Installation von Photovoltaikanlagen auf Dächern unterstützt werden sollte. Vorrang vor der energetischen Gebäudesanierung muss allerdings die CO₂-neutrale Umstellung der Energieerzeugung auf Basis eines kommunalen Wärmeplans haben, aus dem sich klare bauliche und anlagentechnische Maßnahmen ableiten lassen.
3. Nachhaltiges Bauen ist langlebig
Nachhaltigkeit darf nicht nur auf den energetischen Standard oder die Menge der grauen Energie reduziert, sondern muss umfassend gedacht werden. Kurzfristige Strategien wie der Einsatz immer aufwendigerer Wärmedämmung führen in eine Sackgasse: WDVS-Fassaden sehen schon nach wenigen Jahren schäbig aus und sind nicht in der Lage, öffentliche Stadträume zu gestalten. Wirklich langlebige Architektur muss neben ökologischen Aspekten auch ästhetische umfassen. Ein gut gestaltetes Haus wird nicht so schnell wieder abgerissen und im Bedarfsfall eher umgenutzt. Ästhetische Nachhaltigkeit sollte sich oberflächlichen Moden in der Architektur widersetzen und Häuser für lange Zeiträume konzipieren – nur so kann sie einen Beitrag zum Weiterbauen an der Stadt leisten.
Wirklich langlebige Architektur muss neben ökologischen Aspekten auch ästhetische umfassen.
4. Nachhaltiges Bauen ist nutzungsneutral
Da sich soziale und technische Anforderungen mit der Zeit verändern, müssen Gebäude möglichst nutzungsneutral konzipiert werden. Dabei beziehen wir uns auf das bereits Anfang der 1960er-Jahre von John Habraken entwickelte Konzept des open building, das eine robuste Grundstruktur mit flexibler Nutzung verbindet. Wir übersetzen diesen Anspruch in eine massive äußere Hülle und eine offene innere Struktur, die dem Skelettbau ähnelt und im Laufe des Lebenszyklus für verschiedene Nutzungen adaptiert werden kann. Einfache, standardisierte Grundrisse und gut proportionierte Räume decken so die Wohnbedürfnisse von 99 Prozent der Bewohnerinnen und Bewohner ab – die Bedingung für eine möglichst lange Nutzungsdauer von Gebäuden.
5. Nachhaltiges Bauen ist Bauen im Bestand
Die Realität des Bauens in unseren Städten ist noch immer von Abriss und Neubau geprägt. Dabei liegen im Bestand die entscheidenden Hebel, um Städte klima- und ressourcenschonend weiterzuentwickeln und den notwendigen Strukturwandel zu gestalten. Das Verschwinden des Einzelhandels aus den Zentren, der Rückbau der autogerechten Stadt, der Mangel an Wohnraum – die Lösung für diese Probleme liegt in einer Strategie für den Bestand. Unsere Erfahrungen mit dem strukturellen Umbau haben gezeigt, welche Potenziale in diesem Ansatz liegen: aus leerstehenden Bürogebäuden werden Wohnhäuser, aus dysfunktionalen Siedlungen lebenswerte Stadtquartiere. So lassen sich Städte durch Modernisierung, Umnutzung, Transformation und gezielte Erweiterung ressourcenschonend und weitgehend klimaneutral erneuern.
7. Nachhaltiges Bauen basiert auf rationalen Prozessen
Nachhaltiges Bauen beginnt mit digitalisierter Planung. Nur so können wir wirksame Maßnahmen zur Reduktion von Emissionen treffen sowie klimafreundlichere Baustoffe und leichtere Konstruktionen einsetzen. Ein voll digitalisierter Workflow auf Basis von BIM-basierten Gebäudemodellen ermöglicht die Überprüfung des Umweltfußabdrucks sämtlicher Bauteile in Echtzeit, sodass CO₂-Treiber in der Konstruktion schon vor dem Bauen identifiziert werden können. Die digitalisierte Planung erfordert jedoch eine rationalisierte Bauwirtschaft – Letztere befindet sich allerdings immer noch auf vorindustriellem Niveau. Die Vorteile des industriellen und modularen Bauens – kurze Bauzeiten, optimale Qualitätskontrolle, niedrige Kosten und geringe Abfallmengen – müssen endlich umfassend genutzt werden.
Das Ziel nachhaltigen Planens und Bauens ist die Wiedergewinnung verlorener Handlungsspielräume der Architektur.
8. Nachhaltiges Bauen muss nicht recycelbar sein
Architektinnen und Architekten planen ihre Gebäude prinzipiell für die Ewigkeit. Das Cradle-to-Cradle-Prinzip widerspricht zunächst einmal diesem Grundgedanken, weil es schon beim Planen von einem baldigen Rückbau ausgeht. Das Haus wird zu einem austauschbaren Konsumgegenstand: heute Wohnung, morgen Möbel oder Verpackungsmaterial. Die Rückführung der Baustoffe in den Wirtschaftskreislauf liegt zudem weit in der Zukunft, während wir CO2-Emissionen im Hier und Jetzt reduzieren müssen. Die maximale Sofortwirkung erzielen wir daher mit klimaneutralen Baustoffen. Dennoch kann eine Kreislaufwirtschaft sinnvoll sein: Mit Blick auf das open building sollten vor allem die für den Innenausbau verwendeten Materialien rückführbar sein, jedoch nicht wie in einem Bauteilelager, sondern mittels umfangreicher Rücknahme, Aufbereitung und erneuter Gewährleistung durch die Hersteller als Alternative zum Stoffrecycling.
9. Nachhaltiges Bauen erfordert Priorisierung
Bis zu 20.000 Normen und Vorgaben regulieren das Bauen in Deutschland. Der Kreislauf aus immer mehr und immer schärferen Vorschriften hat seinen Anteil an den explodierenden Baukosten. Ein Resultat ist der verstärkte Kostendruck zulasten der architektonischen Qualität, ein anderes die Bevorzugung von konventionellen Lösungen. Das Bauen wird also immer aufwendiger und infolgedessen immer kurzlebiger. Nachhaltiges Bauen kann hingegen nur entstehen, wenn die Bauvorgaben auf ein Minimum reduziert und vor allem sinnvoll priorisiert werden. Entscheidend sollte dabei das Ergebnis sein (z. B. der effektive CO2-Ausstoß je Quadratmeter) und nicht der Weg (z. B. das Passivhaus). Hierfür benötigen wir ein Gebäudeenergiegesetz mit klaren Vorgaben zu CO2-Budgets und zur Rezyklierbarkeit der Bauteile.
10. Nachhaltiges Bauen leistet einen Beitrag für die Gesellschaft
Die Architektur befindet sich in einer Krise. Zwischen Energieberatung, Kostenoptimierung, Kreislaufwirtschaft, Technisierung und der Moderation von Beteiligungsverfahren hat sie ihre eigentliche Funktion aus den Augen verloren: die Schaffung von lebenswerten Räumen. Selbstverständlich tragen auch Architektinnen und Architekten eine Verantwortung für Klima und Umwelt. Das Ziel nachhaltigen Planens und Bauens muss daher in der Wiedergewinnung verlorener Handlungsspielräume der Architektur liegen. Jenseits von Kostendruck und Cradle-to-Cradle-Prinzipien müssen wir unsere Stadtquartiere sozial und funktional gestalten, um einen positiven Beitrag zum kollektiven Gedächtnis der Gesellschaft zu leisten.