Architektur ohne Funktion ist keine Architektur
In seinem Vortrag bei der „3. Aachener Tagung“ der RWTH setzt sich Stefan Forster mit der Funktion als Bedingung von Architektur auseinander. Der Beitrag ist Teil der Dokumentation der „3. Aachener Tagung“ der RWTH, die sich der „Funktion“ als grundsätzlicher Einflussgröße bei Entwurf und Bau von Architektur und Stadt widmet.
Die Frage nach der Bedeutung der Funktion für die Architektur beschäftigt die Theorie seit Vitruv. Mein Zugang zur Funktion ist vergleichsweise einfach und eher aus der Praxis abgeleitet: Die Funktion ist zunächst nichts anderes als die Existenzberechtigung eines Gebäudes. Sie ist die notwendige Voraussetzung für eine wie auch immer geartete Bautätigkeit. Erst in einem zweiten Schritt stellt sich die Frage nach dem „Wie“ der Funktion, also nach der konkreten Ausgestaltung einer bestimmten – funktional definierten – Bauaufgabe.
Aus meiner Sicht ist die architektonische Ausdrucksweise jedoch unabhängig von der funktionalen Bestimmung des Bauwerks. Man denke etwa an ein Hotel oder an ein Krankenhaus: Die Größe und Dimension der Zimmer folgen – mal mehr, mal weniger stark – den Regeln der Bauentwurfslehre und den entsprechenden DIN-Normen. Das Ergebnis ist eine Abfolge von immer gleichen Zimmern, die über einen Mittelflur erschlossen werden.
Auf dieser Ebene der Gebäudeorganisation gilt die Losung Form follows function in einem basalen Sinn: Andere Erschließungs- und Grundrissformen wären schlichtweg unökonomisch. Diese rein funktionalen Aspekte verhalten sich jedoch neutral gegenüber der architektonischen oder auch städtebaulichen Qualität von Gebäuden.
Hierfür sind andere Fragen entscheidend: Wie tritt das Gebäude in einen Dialog mit dem Kontext? Wie und mit welchen Mitteln gestaltet seine Fassade den öffentlichen Raum? Durch welche Gestaltungselemente entsteht eine Anmutung von Großzügigkeit oder gar Eleganz?
Auf architektonischer Ebene spielt etwa die Größe der Fenster eine Rolle, eingeschnittene Eingänge schützen vor Wind und Wetter und bilden eine Pufferzone zwischen Wohnhaus und Stadt, wertige Materialien ermöglichen die Identifikation mit dem Gebäude und gewährleisten zugleich die Dauerhaftigkeit eines Hauses – dies sind nur einige Beispiele für architektonische Qualitäten, die jedoch als solche weitgehend unabhängig von der Funktion (zumindest im engeren Sinne von Nutzung) existieren.
In einem weiteren Verständnis von Funktion könnte etwa das gelingende Stadtleben durchaus auch als eine „Funktion“ beschrieben werden. Die Beherrschung der funktionalen Abläufe, ob nun enger oder weiter gefasst, gehört in jedem Fall zum Handwerk der Architektur. Ein Haus, in dem man nicht leben kann, hat keine Existenzberechtigung. Die architektonische Qualität zeigt sich jedoch in dem, was über die bloße Zweckerfüllung hinausweist und die Architektur vom Hochbau unterscheidet.
Philosophicum, Frankfurt am Main
Das Philosophicum zählt zu den bedeutendsten Baudenkmalern der Nachkriegsmoderne in Frankfurt am Main. Es wurde von 1958 bis 1960 als Sitz der philosophischen Fakultät der Frankfurter Goethe-Universität nach Plänen von Ferdinand Kramer im Stil des Funktionalismus errichtet und gilt mit seiner außenliegenden Stahlskelettkonstruktion als Pionierbau seiner Zeit.
Die beiden Erschließungskerne stehen vor der Fassade und ermöglichen einen stützenfreien Innenraum, der flexibel unterteilt werden kann. Nach dem Umzug der Universität an den Campus Westend stand das neungeschossige, knapp 80 Meter lange Bauwerk seit 2001 leer und wurde von 2014 bis 2016 schließlich von Stefan Forster Architekten in ein Studierendenwohnheim mit Kindertagesstätte und Café transformiert.
Ungeachtet seiner architekturhistorischen Bedeutung als eines der Hauptwerke von Ferdinand Kramer stand das Philosophicum zeit seines Bestehens immer wieder im Fokus kontroverser Debatten. Gegenstand der Kritik war zum einen die isolierte städtebauliche Situation: Das Gebäude kehrt der Straße gewissermaßen den Rücken zu und wurde von der Bevölkerung als abweisend beschrieben.
Zum anderen bemängelten die Nutzer die energetischen Defizite der dünnen Außenhaut, die im Sommer zur Überhitzung und im Winter zur Unterkühlung neigte. Mehrere Gutachten belegten die Schwierigkeit einer Umnutzung angesichts der strukturellen Rahmenbedingungen – ein Abriss konnte letztlich nur durch die Intervention des Denkmalschutzes verhindert werden.
Grundidee des Entwurfes ist ein paralleler Ergänzungsbau in der Flucht der angrenzenden Blockrandbebauung, der die Abwendung des Bestandsgebäudes vom Straßenraum korrigiert und es mit diesem verbindet. Der schlichte Neubau mit Klinker- und Betonfassade lässt den Übergang von Alt zu Neu deutlich erkennbar. Mit nur fünf Geschossen gliedert er sich in die Umgebung ein und lässt den dahinter liegenden neungeschossigen Altbau sichtbar.
Die Erschließung erfolgt über die Treppenhaustürme des Bestands. Die Grundrissstruktur beider Gebäudeteile ist identisch, jedoch gespiegelt: Die Apartments liegen jeweils an den außenliegenden Fassaden, die Flure zum schmalen Innenhof. Insgesamt entstanden 238 Studierenden-Apartments, eine Kita und ein Café im Erdgeschoss.
Ziel der Bestandssanierung war es, möglichst viele originale Bauteile im Sinne des Denkmalschutzes zu erhalten und die gebäudeeigene Stimmung im Haus sowie die Erscheinung der Parkansicht zu bewahren. Leider konnte die Bestandsfassade aufgrund der bauphysikalischen Anforderungen nicht erhalten und ertüchtigt werden.
Es wurde daher eine identisch aussehende neue Fassade entwickelt, die den aktuellen Anforderungen gerecht wird. Auch die Sanierung des Innenraumes stellte angesichts des thermisch nicht getrennten, von außen nach innen laufenden Stahl-Tragwerks und der heutigen Anforderungen an Bauphysik und Brandschutz eine große Herausforderung dar, die eine sehr intensive Detailplanung erforderte.
Erschienen in „Identität der Architektur. III. Funktion. Positionen zur Bedeutung der Funktion in der Architektur“
Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln
Herausgeber: Hartwig Schneider, Uwe Schröder
1. Auflage, 2020
ISBN 978-3-96098-737-6