Die Architektur der Stadt und ihre Fassaden
Welchen Einfluss hat die Fassade auf das städtische Gefüge? Wie definiert sie den öffentlichen Raum? Vortragsdokumentation der 7. Konferenz zur Schönheit und Lebensfähigkeit der Stadt
Guten Tag, meine sehr verehrten Damen und Herren, mir ist zum ersten Mal die Ehre erteilt worden, hier eingeladen zu werden. Ich muss gestehen, dass mir hier alles etwas seltsam vorkommt. Man tritt in eine merkwürdige Welt ein, die weit entfernt von der Realität ist, in der ich arbeite und lebe. Hier wird eine hochintellektuelle, kunsthistorische Diskussion geführt, der ich teilweise nur mit Mühe folgen konnte.
Gestern war ich bei einer Diskussion, in der es um die Nachverdichtung einer Siedlung mit 800 neuen Wohnungen für zehn Euro Miete pro Quadratmeter ging. In einem weiteren Termin drohte mir der Bauherr mit Vertragskündigung, falls ich die Fassade nicht für 250 Euro pro Quadratmeter planen könnte. Heute nun höre ich hier von meterdicken Marmorelementen, die mit dauerelastischen Fugen zusammenstoßen. Ich muss gestehen, dass mir das alles doch fremd ist.
Vielleicht kann ich aber trotzdem einen Beitrag zu dieser Konferenz leisten. Ich sehe meine Aufgabe als Architekt darin, Alltagsarchitektur mit geringen Mitteln zu realisieren und dabei anständig zu bleiben.
Das Deutsche Institut für Stadtbaukunst hat unser erstes größeres Gebäude in Frankfurt für meinen Vortrag ausgewählt. Es handelt sich um die sogenannte ABG-Siedlung in der Voltastraße. Die Bestandsgebäude aus den Zwanzigerjahren mussten wegen Baufälligkeit abgerissen werden. Das gab uns die Möglichkeit, das Grundstück und die Aufgabe neu zu interpretieren.
Man baut Stadt weiter, indem man den massiven Rand weiter nach außen verschiebt, die klassische Art wie Stadt organisch wächst. Das ewige zitierte Beispiel für dieses Wachsen ist das Wien der Dreißigerjahre. Wir nehmen das Thema des städtischen Blocks auf und manifestieren dadurch das Wachsen der Stadt, in diesem Fall von Osten nach Westen. Stadtrand heißt dementsprechend nicht Auflösung des Randes mit Stadtvillen, sondern die Ausbildung einer massiven Kante. Sie ermöglicht weiteres organisches Wachstum.
Somit handelt es sich bei dem Gebäude um einen großen Wohnblock; in der Mischung zwischen sozialem Wohnungsbau und freifinanziertem Wohnungsbau, [1] eine in Frankfurt häufig angewandte Praxis.
In unserer Architektur geht es darum, bei den Menschen verlorengegangenes Vertrauen wiederherzustellen, folglich eine Architektur zu kreieren, die den Menschen vertraut ist.
Das Gebäude soll beim Betrachter ein Déja-vu erzeugen. Man glaubt, es schon irgendwo einmal gesehen zu haben. Das Haus könnte vor 40, 50 oder erst vor wenigen Jahren gebaut worden sein. Es steht an diesem Ort, als hätte es dort schon immer gestanden. Die Großform Block, eine Siedlungstypologie und Zeichen einer kollektiven Wohnform, ist die Übernahme des Wiener Themas.
Neben dem Weiterbauen der Stadt beschäftigen wir uns mit der Fassade. Nichts ragt aus dieser heraus. Wir verzichten zugunsten der Loggia auf den klassischen Balkon. Er stülpt das Privatleben auf die Straße, wo es nichts zu suchen hat. Mit der Loggia nehmen wir die Privatheit zurück hinter die Flucht der Fassade. Ein weiteres Element unserer Architektur ist die Profilierung der Fassade. Das Projekt ist 2001 entstanden. Wir haben es damals geschafft, vier verschiedene Fassadentiefen im Klinker zu generieren. Etwas, das heutzutage, dank der EnEV und der Gier der Bauherrn, nicht mehr möglich ist. Heute sind wir immer mehr gezwungen, diese Profilierung im WDVS herzustellen. Wenn wir Glück haben, gelingt es uns, den Klinker im Sockel zu verwenden. Wenn wir Pech haben, müssen wir den Klinker durch Riemchen simulieren. Das ist unser Alltag als Wohnungsbauer.
Ich hätte natürlich auch gerne einen Bauherrn, der sich das Gebäude in vollem Marmor wünscht, aber im Massenwohnungsbau gibt es so etwas leider nicht. Die Fassadenprofilierung stellt verschiedene Schattenwürfe, je nach Tageszeit, her. [2] Wenn man am Gebäude hochblickt, sieht man sehr schön, wie diese Profilierung funktioniert. Sie wird unterstützt durch auskragende Betonfensterbänke, die heute ebenfalls nur noch sehr schwer durchsetzbar sind.
Weiterhin geht es uns um die Ausbildung der Erdgeschosszone. [3] Das Hochparterre schützt die Privatheit der Erdgeschosswohnungen, da es keine Einblicke von der Straße in die Wohnung zulässt.
Wie betritt man ein solches Gebäude? Es fehlt die obligatorische, auskragende Vordachkonstruktion, der stehende Briefkasten, die seitlichen Fallrohre. Stattdessen tritt die Fassade vom Bürgersteig zurück und schafft einen eigenen Eingangsvorraum. Sämtliche notwendigen Objekte wie Briefkasten, Klingelanlage, Lampe sind flächenbündig in die seitlichen Wände beziehungsweise Decke eingelassen. Nichts ragt störend in den öffentlichen Raum. [4]
Das ist für mich Wohnungsbau. Hier leben Menschen aus verschiedenen Nationen mit verschiedenen finanziellen Möglichkeiten um diesen gemeinsamen Hof. Auch einige meiner Mitarbeiterinnen wohnen dort mit ihren Familien. Daher weiß ich, dass alles sehr gut funktioniert. Es gibt eine Art von Nachbarschaft, welche sich auch dadurch besser bilden kann, weil niemand von außen auf das Gelände gelangen kann, der dort nicht hingehört, da die Zugänge mit Klingeln versehen sind.
Das Gebäude sieht heute immer noch so aus wie vor 15 Jahren. Auch dies ist für mich ein Qualitätsmerkmal. Wie altert Architektur? Wie funktioniert sie? Wie verhalten sich die Mieter ihrem Haus gegenüber? Wie gehen sie damit um? Diese Aspekte kontrolliere ich immer wieder. Häuser sind wie Kinder. Man sieht, wie sie wachsen. Werden sie missraten oder vernünftig?
Das zweite Gebäude, das ich Ihnen zeigen möchte, ist ein aktuelles Gebäude. [5] Ich zeige es Ihnen, um darzustellen, wie sich unsere Architektur entwickelt.
Im Prinzip sehen unsere Häuser immer sehr ähnlich aus, man könnte sogar sagen, dass sie gleich seien.
Das zweite Haus steht im Westhafenviertel an einem Platz. Dort gibt es ein Hochhaus, einen Kindergarten und unser Gebäude. Bei dem Projekt ging es darum, ein Ersatzgebäude für eine abgerissene Kirche zu bauen. Darin unterzubringen waren der Gemeindesaal und darüber Wohnungen für Kirchenmitglieder sowie Generationswohnungen.
Wir haben zu dem Platz hin eine Erhöhung umgesetzt, um ihn zu definieren. Für das Haus planten wir drei komplett verschiedene Fassaden, je nach Lage und Funktion dahinter. Es gibt die klassische Straßenfassade eines Wohnhauses mit normalem Zugang, Tiefgaragenabfahrt, verschiedenen Fenstern und Loggien. [6] Das durften wir komplett in Holz realisieren, dem evangelische Verband steht etwas mehr Geld als anderen zur Verfügung.
Mit der Passade zum Platz und ihrer Klinkerhandwerklichkeit wollten wir eine klassische Kirchenfassade simulieren, an der nichts auf eine Wohnhausnutzung in den Obergeschossen schließen lässt. [7]
Zum Hof hin öffnet sich das Haus. [8] Im Erdgeschoss trennt ein umschlossener Innenhof den Kirchensaal vom davorliegenden Spielplatz des Kindergartens. Es galt, dort einen Raum zu definieren, der ganz der kirchlichen Arbeit gewidmet ist. Darüber öffnet sich das Haus mit durchlaufenden Loggien. Ganz oben befindet sich ein Penthaus. Das Haus reagiert mit seinen Fassaden somit auf die verschiedenen Ansprüche der jeweiligen Seiten, das ist unser Ansatz – Reaktion der Architektur auf die Anforderungen des Ortes und der Funktion.
Wir verwenden bei unseren Gebäuden, wenn man uns lässt, Betonwerkstein und die immer gleichen Treppengeländer mit Stahlwange.
Der Gemeindesaal im Erdgeschoss funktioniert als multifunktionaler Raum, in dem sich die Menschen des Quartiers zu gemeinsamen Aktivitäten treffen können.
Boris Schade-Bünsow hat mich um die Angabe von drei Punkten gebeten, die beschreiben, wie ein Haus funktioniert. In drei Punkten geht das leider nicht. Das wäre so ähnlich wie die Aufgabe, das Funktionieren eines Autos in drei Punkten zu beschreiben.
Ich habe 18 Punkte aufgelistet, wie ein Haus in der Stadt unserer Meinung nach auszusehen hat. Ich habe mich damit an einem Regulativ versucht, das erklärt, wie man Stadtfassaden organisieren kann, ohne dicken Marmor oder Bronze verwenden zu müssen. Ich will nicht näher darauf eingehen, stelle es aber für die Konferenzpublikation zur Verfügung: Dies sind Elemente, die wir vor zehn Jahren entwickelt haben. Es werden zum Beispiel die Fragen geklärt, wie das Verhältnis von Öffentlichkeit zu Privatheit funktioniert, wo die Verantwortlichkeit des Architekten liegt, wenn er an einer Straße in der Stadt baut und so weiter. Wir haben diese 18 Punkte in Frankfurt relativ früh propagiert. Inzwischen sind sie größtenteils Bestandteil von Wettbewerbsausschreibungen geworden. Man kann also doch etwas bewirken, wenn man hartnäckig bleibt.
Ich danke Ihnen.
Stefan Forster: 18 Punkte
- Das Wohnen im Erdgeschoss eines städtischen Hauses hat im Hochparterre stattzufinden.
- Der Sockel des städtischem Hauses ist mindestens bis zum 1. Obergeschoss in Stein auszuführen.
- In den Straßenraum hineinragende Vordachkonstruktionen sind untersagt.
- Der Eingang muss von der Straße zurückversetzt angeordnet werden.
- Das Treppenhaus muss durchgesteckt werden (direkte Verbindung von der Straße zum Hof).
- Briefkästen und Klingelanlagen sind flächenbündig auszuführen.
- Der Müllraum ist direkt von der Straße aus zugänglich.
- Der Fahrradraum liegt am Durchgang zum Hof.
- Regenfallleitungen sind flächenbündig an der Trennung zum Nachbarhaus anzuordnen.
- Auskragende Balkone sind untersagt.
- Der notwendige Außenbezug der Wohnungen ist über Loggien herzustellen.
- Auskragungen (z. B. Erker) sind auf maximal 1 Meter Tiefe zu beschränken.
- Das Treppenhaus, falls auf der Straßenseite liegend, ist kein Gestaltungselement.
- Sturz- und Brüstungshöhen aller Fenster und Fassadenöffnungen liegen auf einer Höhe.
- Fensterbänke und Gesimse sind mit einer massiven Anmutung herzustellen.
- Grelle Fassadenfarben sind untersagt.
- Das Farbkonzept ist aus den Farben des Kontextes abzuleiten.
- Die Straßenfassade muss profiliert ausgeführt werden.
Vortragsdokumentation aus:
Die Architektur der Stadt und ihre Fassaden
Band 7, Konferenz zur Schönheit und Lebensfähigkeit der Stadt
DOM Publishers, 2017
ISBN 978-3869226026